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Träume von der Ferne

Nachts im afrikanischen Busch, im Zelt, werde ich wach vom Tuten eines Zuges. Ja, die Eisenbahn, denke ich im Halbschlaf, die einzige Eisenbahnlinie in diesem riesigen Land. Wir sind ja gestern mit dem Zug gekommen, zu dieser kleinen Station mitten im Busch. Und jetzt, in der Nacht ist wieder ein Zug gekommen. Horch! jetzt tutet er noch einmal. Dann beginnen sich die Räder zu drehen und fahren mit einem ganz langsamen „- Ra - ta – ta -“ über die ersten Schienenstöße. Langsam immer schneller. Bolero der Schienenstöße. Ratatat - Ratatat. Immer schneller, immer ferner, immer schneller, immer ferner. Tatta - tatta - Tatta - tatta ...
Halbschlaf. Ich wähne mich im Haus meiner Eltern. Im Dorf. Am Waldrand. Ich liege abends in meinem Bett und höre durch das geöffnete Fenster einen Zug fahren. Er tutet und dann setzen sich die Räder langsam in Bewegung, rattern über die Schienenstöße, schneller und schneller und der Zug fährt fort, weit fort in die Ferne. Und immer wollte ich aufspringen auf diesen Zug, der irgendwo hinfuhr in die weite Welt.
Ich hatte ja meine Erfahrungen mit dem Zugfahren. Meine Großeltern wohnten weit weg, an der Landesgrenze und man musste viele Stunden mit dem Zug fahren. Damals gab es zwei durchgehende Züge täglich. Einen am Tage und einen, der erst am Abend abfuhr. Immer drängte ich meine Eltern, den Abendzug zu nehmen, wenn ich im Sommer für ein paar Wochen zu Oma und Opa fuhr. Und dann saß ich im Abteil und presste mein Gesicht an die Scheibe. Draußen flog die Nacht vorbei und manchmal waren die Lichter eines Dorfes in der Ferne zu sehen. Von Zeit zu Zeit tutete die Dampflok und schnaufte und schnaufte. Ging es bergauf, stöhnte sie vor Anstrengung, aber bergab zischelte sie schnell und freudig dahin. Immer hielt ich mein Gesicht an die Fensterscheibe und schattete es an den Seiten mit den Händen ab. Manchmal huschten sogar ganze Schwärme von Funken gleich Sternchen am Fenster vorbei. Und dazu hämmerten die Räder ihr Lied auf die Schienenstöße.
Hätte mir damals jemand prophezeit, ich würde später mit dem Zug durch Afrika fahren, mein Zelt im Busch aufschlagen und mehrere Wochen in der Savanne verbringen! Und die Nilpferde weiden nachts das Gras um mein Zelt herum ab und die Hyäne hat eines Nachts meine Sandalen vor dem Zelt in kleine Stückchen zerlegt.
Während ich abends am Feuer sitze, brüllen vom anderen Flussufer die Löwen. Und das ist alles ganz normal, selbst der zahme Affe, den mir die afrikanischen Kollegen geschenkt haben.
In einer Woche ist Weihnachten, denke ich, und nehme das Rattern des Zuges wie ein großes Geschenk entgegen. Manchmal übertrifft die Wirklichkeit sogar die Träume der Kindheit, denke ich noch, während das Ratatat der Räder sich in der afrikanischen Nacht verliert und ich wieder im Schlaf versinke.

(Heino Hertel - 1995)

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